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Christin Klug - besser spät als nie Menschen vor Ort

Text: Anja Martin

Nach fast zehn Jahren im Leistungsbezug und ohne Berufsausbildung machte die 32 Jahre alte Prenzlauerin über das kommunale Jobcenter einen Abschluss zur Gesundheits- und Krankenpflegehelferin. Als Anreiz für den Antritt ihrer ersten festen Stelle bekam sie ein Einstiegsgeld, betreut heute alte Menschen und sagt: „Krankmachen? Das gibt es für mich nicht mehr.“

Christin Klug, 32, kommt zu Fuß zur Seepromenade in Prenzlau. Leichter Gang, schlank, sportlich. Die enge Jeans hat Modelöcher, dazu trägt sie ein schwarzes Tanktop und niedrige Stoffturnschuhe, dazu eine große Handtasche mit Disneyfiguren. Eigentlich will sie mit uns ins Strandcafé, doch das Rolltor ist noch zu. Es ist zehn Uhr morgens an einem Mittwoch, der Sommer hat gerade richtig losgelegt. Die ersten Kinder stellen sich für Pommes an. Die Sitzrasenmäher der Stadtverwaltung dröhnen aus allen Richtungen. Sie freut sich über Prenzlau, diese kleine Stadt in der Uckermark, zwei Zugstunden nördlich von Berlin, die vieles hat. Sie findet: alles. Also See, Promenade, Strandbad, 6-Meter-Sprungturm, Softeis, Tretboote, Restaurants mit Spargel, Schnitzel und 5-Euro-Apfelsaft, gepflegte Grünanlagen, Parkarchitektur mit Freilichtbühne, Spiegelkabinett. Es ist ihre Heimatstadt. Sie ist extra vom Rand ins Zentrum gezogen, damit sie nicht mehr so weit laufen muss: fünf Minuten zum See und fünf Minuten zur Arbeit. Als Gesundheits- und Krankenpflegehelferin betreut sie alte Menschen in einer Wohngemeinschaft am Marktplatz, ist alleinerziehend mit einer acht Jahre alten Tochter. Heute hat sie ihren freien Tag und die kleine Pauline ist in der Schule. Deswegen können wir Christin Klug hier an der Strandpromenade treffen, auf ein Gespräch und einen Latte Macchiato.


Guten Morgen Frau Klug, wir können hier gemütlich sitzen. Wie würde Ihr Tag aussehen, wenn Sie nicht frei hätten?
Wenn ich Frühschicht habe, stehe ich um 3:45 Uhr auf, um alles vorzubereiten und für Pauline die Stullen zu richten. Um halb sechs wecke ich dann das Kind. Sie macht sich schnell fertig und schnappt sich alles. Dann gehen wir: Sie zum Frühhort der Schule, gleich um die Ecke. Ich zur Arbeit. 6:15 Uhr Dienstübergabe. 6:30 Uhr Dienstbeginn. Das geht bis 14:30 Uhr. Danach gehe ich einkaufen, weil das gleich auf dem Weg liegt. Bringe den Einkauf nach Hause. Hole mein Kind. Mache sauber. Kümmere mich um die Sachen, die mit ihr so anstehen. Mache irgendwann abends Essen, bade sie und ab ins Bett, bis der nächste Tag kommt.

Und an einem so schönen Tag wie heute, was würden Sie mit den Bewohnern unternehmen?
Da gehen wir raus auf den Marktplatz. Sie bekommen eine Strickjacke und etwas zu Trinken mit und ich schiebe sie einzeln, im Rollstuhl, vor die Tür, stelle sie schattig unter einen Baum, wo ich alles gut im Blick habe. Da sitzen wir dann so anderthalb bis zwei Stunden. Da kommt immer jemand, der mit denen quatscht. Ich kenne das nicht, dass wir da mal komplett alleine sitzen. Nicht mal auf einen Sonntag, wo bei uns in Prenzlau die Bürgersteige hochgeklappt sind.

Wie viele leben denn in der betreuten Wohngemeinschaft?
Fünf. Zurzeit alles Frauen. Eine reine Weiber-WG (lacht).

Und wie gefällt Ihnen die Arbeit?
Ich bin jetzt fast anderthalb Jahre dabei und eigentlich durchgehend in dieser WG. Wenn da jetzt jemand wegbricht … Eine ist ausgezogen, zurückgegangen zu ihrer Tochter. Das war ein großer Abschied für mich. Das war, als wenn mir mein Kind entrissen wird. Also für mich hat es oberste Priorität, dass es den Damen gut geht, dass sie alles bekommen, was sie haben wollen. Es gibt immer ein paar Wünsche, die sie äußern. Ich sage immer, das ist so der letzte Lebensabschnitt. Und ich möchte, dass sie sich da wohlfühlen.

Ist das immer so harmonisch?
Es gibt auch mal ein Problemchen, gerade weil die ja aufeinander hocken. Na, ich sag mal, die sehen ja nichts anderes außer sich, da wird gerne ein bisschen gezankt. Das ist ja unter Frauen auch im Alter so. Aber ansonsten: Das ist für mich eine Herzensangelegenheit mit denen. Also ich bin da gerne.


Hatten Sie sich das gedacht, dass Sie mal in der Altenpflege arbeiten würden?


Ne. Früher habe ich vieles angefangen, aber nichts zu Ende gebracht. Kein Bock. Aber als ich dann Pauline geboren habe, da war vieles anders: die Verantwortung, die man plötzlich hatte. Mein Problem war, dass ich noch mit 26 Jahren ohne abgeschlossene Ausbildung dastand und mir dachte: Was sollst du deinem Kind irgendwann mal sagen?

Was haben Sie vorher ausprobiert?
Ich habe in Greifswald in der Großküche mit einer Kochausbildung angefangen, habe es dann noch mal in Prenzlau à la carte versucht. Das ging auch nicht. Dann habe ich in Pasewalk als Telefonistin gearbeitet. Das ging schon mal gar nicht. Das war überhaupt nicht meins. Meine Mutter war damals selbständig. Sie hatte ein Studio für Tattoos, Solarium, Piercing, Fingernägel. Da habe ich natürlich auch mal mitgearbeitet. Man hat sich keine Gedanken gemacht, dass man seinen eigenen Weg finden sollte. Also damals hat man sich zu sehr auf das verlassen, was grade da war.

Also keine Ausbildung, aber einen Schulabschluss haben Sie gemacht?
Ja. Also den Hauptschulabschluss, aber mehr auch nicht. In der 9. Klasse hatte ich ein super Zeugnis, nur Dreien, Zweien, eine Vier. Und in der 10. Klasse hab ich den kompletten Absprung vom Lernen gemacht. Ich bin nicht mal zur Mathe-Nachprüfung gegangen. Und das hat mir mein ganzes Leben versaut. Deshalb war es gar nicht so einfach, diesen Platz auf der Medizinischen Schule Uckermark für die vom Jobcenter finanzierte Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegehelferin zu bekommen. Hätte ich es auf dem normalen Weg versucht, mit Zeugnissen und Bewerbung. Die hätten mich nie genommen. Das ging nur wegen des Praktikums.

Welches Praktikum?
Ich hatte davor als Maßnahme ein Bewerbungstraining mitgemacht. Dort hieß es, wir sollen uns ein Praktikum suchen. Und irgendwie kam mir in den Sinn, es im Krankenhaus zu machen. Dann bin ich hingefahren, habe mit der Zuständigen gesprochen und meinen Praktikumsplatz bekommen.

Wie ging es dann später auf der Medizinischen Schule?
Es sind viele Arbeiten gewesen. Viel Pauken. Aber gerade das hat mir so einen Spaß gemacht. Wir waren 19 Leute, als wir gestartet sind. Am Ende waren wir nur noch sieben.

Aber gab’s bei Ihnen auch Hänger?
Nein, gar nicht. Das war meins.

Also das genaue Gegenteil zur Schulzeit.
Ich habe so gerne gelernt und hatte so einen eigenen Ansporn. Ich habe in dem ganzen Jahr nur eine Vier geschrieben, und das war in Recht. Ich habe da gesessen, als 30 Jahre alte Frau und habe geheult, weil ich so wütend auf mich selber war.

Ganz schön ehrgeizig…
Vor der Ausbildung war es ja noch so, dass ich mich ziemlich oft hab krankschreiben lassen, weil ich dies nicht machen wollte, das nicht machen wollte, dazu keine Lust hatte. Mittlerweile hat sich das natürlich komplett gewandelt. Krankmachen gibt es nicht. Da muss sonst was sein, dass ich mal zum Arzt gehe.

Wie lange waren Sie denn arbeitslos?
Lange, also ich überlege jetzt gerade. Fast zehn Jahre war ich beim Amt. Also wirklich lange. Das kam alles erst mit der Zeit bei mir, sehr spät, aber dafür mit sehr viel Sorgfalt. Also mit Disziplin. Und ich versuchte auch wirklich, alles auf die Reihe zu kriegen. Nebenbei mache ich noch meinen Führerschein. Oh stimmt, ich hab heute noch Fahrschule.

Das klingt ja gut. Und wie viele Stunden haben Sie schon?
Theorie kann man nicht mehr mitzählen, aber ich gehe lieber eine Stunde mehr als zu wenig, weil ich durch die Schichtarbeit nicht immer konstant lernen und nicht immer da sein kann. Ich bin auch ein ängstlicher Typ. Ich habe Prüfungsangst. Nicht dass ich da wieder nervös werde, hatte in nämlich auch in der praktischen Prüfung im Krankenhaus. Bin ich mit ner Vier rausgelaufen, weil ich einen Blackout hatte. Schriftlich ging alles, da habe ich eine Zwei bekommen. Aber wenn man mir auf die Pfoten kiekt, werde ich nervös. Ich weiß, ich kann alles, aber in dem Moment mache ich alles falsch.

Und wofür wollen Sie den Führerschein?
Für die Arbeit, dass wir ne Tour fahren können, wenn mal Not am Mann ist. Aber am allermeisten wegen Einkaufen, überall hinkommen, zu meinen Eltern. Für alles muss ich meinen Vater ranorganisieren. Dann hat das halt endlich mal ein Ende.

Ich hatte gehört, dass Sie sich den Führerschein mit dem Einstiegsgeld vom Jobcenter finanzieren wollten?
Genau, das war der Plan. Aber ich hatte eine Trennung von meinem Partner und es ging nicht anders, ich musste umziehen und mich neu einrichten. Aber ich habe gesagt, ich hole es nach. Das habe ich meiner Sachbearbeiterin versprochen. Und nun mache ich es eben von meinem eigenen Geld.

Hatten Sie als Kind einen Berufswunsch?
Ja. Ich dachte, ich werde mal Tierärztin. Ich wollte immer was mit Tieren machen. Aber ja, meine Faulheit stand mir im Weg. Wenn ich jetzt nochmal die Chance hätte, diesen Tierpfleger zu machen und im Zoo zu arbeiten. Ich würde hier sofort hier alles ad acta legen, meine Sachen packen und wegziehen. Dafür würde ich es tun.

Weiterhin Pflege, aber Tiere…
Tiere sind allgemein dankbarer als Menschen. Das steht außer Frage. Und da fühle ich mich natürlich mehr hingezogen.

Also beruflich wurden es dann doch die Menschen. Aber wollten Sie mit Ihrer Krankenpflegehelferinnenausbildung nicht eher in eine Klinik?
Also mein Wunsch war es immer, im Intensivbereich zu arbeiten. Ich merke das jetzt erst wieder. Wir haben bei uns eine Patientin, die hat ein ganz großes medizinisches Problem. Das fasziniert mich. Wenn andere sagen: Oh, da kann ich nicht hingucken. Da bin ich die erste, die sagt: Wo kann ich anfassen, wo kann ich helfen. Auch privat. Ich schau mir so viele Dokus und Reportagen dazu an. Medizin ist mein Bereich.

Aber da haben Sie keine Stelle gefunden?
Also ich musste mich nach der Ausbildung am Sprunggelenk operieren lassen, war auch mit dem Jobcenter so abgesprochen, ging monatelang auf Krücken. Und ich hatte mir geschworen, danach gleich eine feste Stelle zu finden. Ich habe im Krankenhaus angerufen, aber die hatten nur in Angermünde was frei. Es wäre ein Problem gewesen, dort überhaupt hinzukommen, mit Kind und ohne Auto. Und dann hat sich das mit der Alten-WG ergeben.


Haben Sie den Klinikjob noch im Hinterkopf?
Das ist schon in weite Ferne gerückt, weil ich mich ja für die Bewohner so verantwortlich fühle. Das Pflichtbewusstsein habe ich von meinem Vater, er ist ein sehr disziplinierter Mensch, hat Mathe studiert und immer hohe Anstellungen gehabt und Verantwortung getragen. Meine Mutter war auch ihr ganzes Leben über fleißig, aber auch lockerer und hat mehr gemacht, worauf sie grade Lust hatte. Ich bin da so ein Zwischending. Das ist ganz schwierig. Zum Beispiel habe ich jetzt eine Nachzahlung bekommen. 400 Euro vom letzten Jahr, von der alten Wohnung. Aber statt dass ich die in Möbel investiere, hab ich in zwei Wochen einen Tattoo-Termin. Da kommt wieder meine Mutter in mir durch. So ein bisschen crazy muss sein.

Haben Sie schon Tattoos? Ich sehe keine.
Also nicht an den Armen, aber auf dem Bauch und Rücken bin ich komplett gepierct und tätowiert. Ich trage auch ganz groß meine Tochter auf dem Rücken. In Originalgröße, war ja ein Frühchen, daher recht klein. Außerdem hatte ich mal fünf Piercings im Gesicht. Drei habe ich mittlerweile rausgenommen. Und die Arme will ich auch erst mal freilassen. Das wirkt auch ein bisschen ernsthafter, nicht so unerfahren und verrückt.

Ernsthaftigkeit haben Sie ja nun wirklich bewiesen. Gab es auch Leute, die es Ihnen all das nicht zugetraut hatten?
Ja, meine Eltern am Anfang, meine Freunde, alle. Weil ich ja nie was durchgezogen habe. Das mussten die auch erst mal realisieren, dass das jetzt anders ist.

Und jetzt sind sie stolz auf Sie?
Ja. Denk ich! Wenn man hart genug an sich arbeitet und das auch will, dann kann man das auch schaffen. Es gibt immer eine Möglichkeit und ich finde, man kann sich nicht mit seinem schlechten Zeugnis rausreden. Dann muss man eben öfter mal vor Ort sein und mit den entsprechenden Leuten reden, sich ein Praktikum suchen. Man kann immer noch zeigen: Mensch, ich bin anders unterwegs als das, was da auf dem Papier steht.

Kommunales Jobcenter Uckermark